Grundzüge einer universellen Beziehungsethik
Die universelle Beziehungsethik ist ein geistiger Überbau für jegliche Art von Liebes-Beziehungen – unabhängig von ihren individuellen Formen und Ausprägungen und damit zu unterscheiden von spezifischen Abmachungen und Regeln in einer Beziehung (= “Beziehunsvereinbarung”)
Warum braucht es eine universelle Beziehungsethik?
Beziehungen in der heutigen Zeit sind immer weniger durch äußere (und innere) Zwänge oder existenzielle Bedürfnisse motiviert. Sie zeichnen sich oft lediglich durch das auf Attraktion und Sympathie gegründete Bedürfnis, miteinander in einer Liebesbeziehung zu sein, aus.
Das macht Beziehungen freier, aber auch fragiler und stellt sie vor die Herausforderung ungesicherter Kontinuität. Ich muss mich aber auf etwas verlassen können, um mich auf eine Beziehung ganz einzulassen. Darum braucht es übergeordnete geistige Rahmenbedingungen oder eine ethische Grundlage die verschiedene Qualitäten sowie spezifische Verbindlichkeiten und (freiwillige!) Verantwortlichkeiten beinhaltet und der Beziehung in stürmischen Zeiten ein festes Fundament bietet. Als Grundqualität von Beziehungen setze ich immer ein gewisses Maß an Achtsamkeit und Bewusstheit voraus.
1) Egalität
Eine Liebes-Beziehung fußt auf der Grundannahme, dass zwei gleichberechtigte, autonome und mündige Individuuen eine gegenseitige Partnerschaft im Einvernehmen und auf Augenhöhe eingehen (ähnlich wie Bürger einer Demokratie oder in einer Freundschaft)
Aus dieser Verbindung erwächst kein Exklusivitätsanspruch, Anspruch auf gegenseitige Bestätigung, die Übernahme rollenspezifischer Muster, keine Besitzansprüche, kein Zwang oder irgendwelche Rechtsansprüche.
2) Autonomie
Wahre Autonomie zeichnet sich nicht nur durch Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit aus, sondern auch durch Selbstreflexion und Selbsterkenntnis und damit auch ein gutes Gespür für Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen. Autonomie beinhaltet immer Rechte (Freiheit) UND Verpflichtungen (Verbindlichkeit).
3) Fundamentaler Respekt
Respekt heißt, dass ich die menschliche Würde sowie die persönliche Integrität, Souveränität und Einzigartigkeit, also das SO-SEIN eines Menschen akzeptiere und ihn nicht verändern will.
Das heißt auch, dass ich ihm gegenüber von Gewaltanwendung, Kontrolle, Machtausübung, Manipulation, Zwang, Einschüchterung oder Absolutheitsansprüchen absehe.
4) Intimität
Die bewusste Herstellung von Intimität und ein Engagement für Nähe ist die Basis der Vertrauensbildung zwischen Menschen in einer Partnerschaft. Intimität bedingt immer eine grundlegende Offenheit und emotionale Berührbarkeit, Sensitivität, Einstimmung, ein Aufeinander Zugehen bzw positive Zuwendung (Zu-Neigung) wodurch eine gefühlte Nähe entsteht. Das hat auch zu tun mit Sehen und Gesehen werden – gerade auch mit seinen Schattenseiten und Verletzlichkeiten. Auf körperlicher Ebene entsteht Intimität durch (konsensuelle) Berührung.
5) Ehrlichkeit
… ist eine Offenlegung von Gefühlen, Handlungen und Absichten. Ehrlichkeit macht einen Menschen greifbar und erlaubt eine Positionierung und somit einen Orientierungspunkt in der Beziehung. Das erhöht die Glaubwürdigkeit und damit auch Vertrauen und Intimität. Das Vorenthalten von wichtigen Informationen in einer Beziehung oder das bewusste Lügen oder Täuschen ist nicht (hauptsächlich) aus moralischen Gründen verwerflich, sondern erzeugt ein Informations- und Machtgefälle und widerspricht damit dem Grundsatz der Egalität.
6) Verlässlichkeit – Verbindlichkeit
Achtung in einer Beziehung zeigt sich auch daran, ob und wie ich den anderen in meine Überlegungen und Entscheidungen einbeziehe bzw wie sehr ich mich an getroffene Abmachungen, Verhaltensrichtlinien und Rahmenbedingungen binden kann. Wer Freiheiten hat, hat auch Verantwortung.
Anders ausgedrückt ist es ein gemeinsames Engagement für die Beziehung – zu wissen, dass Dein Partner sich mit Dir gemeinsam für die Beziehung engagiert und mit Dir zusammenarbeitet, um auftretende Probleme zu lösen. Im Englischen gibt es das schöne Wort Commitment, was soviel wie ein starkes Bekenntnis bedeutet – eine verantwortliche Teilnahme am Beziehungsgeschehen, ein aktives Bemühen für eine “kollaborative Allianz”.
7) Verständigung – Kultur des offenen Dialogs
Bemühen um eine gemeinsame Verständigung ist die Bereitschaft, offen, ehrlich und transparent miteinander über die Beziehung, Bedürfnisse und allfällige Probleme zu reden sowie Kompromisse und Lösungen zu finden. Dazu braucht es Kompetenz in Kommunikation und Dialog statt Diskussion.
8) Das Spinnen einer Beziehungsgeschichte
Gemeinsame Erfahrungen sind wie einzelne Perlen einer Kette. Die Liebe selbst braucht die Kette nicht. Die Beziehung schon. Wie eine Geschichte braucht sie eine narrative Struktur, die Erfahrungen sinnvoll miteinander zu einer kohärenten Beziehungsgeschichte verbindet. Für Vertrauensbildung braucht es ab einem gewissen Zeitpunkt einer Beziehung einen gemeinsamen Entwurf, ein Bild, eine Vision der Zukunft. Zukunftserwartungen stärken die Tendenz zu Kooperation und Vertrauen.
9) Eine einvernehmliches Definition von Beziehung
Da innerhalb der universellen Beziehungsethik grundsätzlich jede spezielle Form der Beziehung möglich ist, braucht es ein eine Einigung auf ein gemeinsames Beziehungsbild (zB ob Du eine monogame oder polyamore Beziehung haben möchtest, eine Fernbeziehung führen möchtest, getrennte Schlafzimmer oder eine Beziehung ohne oder mit Sex usw.)
Das erfordert ein sich Bewusstmachen und Artikulieren von Erwartungen und Bedürfnissen sowie das selbstkritische Hinterfragen von solchen und eine gemeinsame Verständigung darüber. Es geht darum, gemeinsame Rechte und Pflichten sowie Grenzen und Freiräume zu bestimmen. Für selbstverständlich gehaltene Annahmen sollte man aufspüren und offen besprechen.
10) Flexibilität
Beziehung ist soetwas wie ein beweglicher Vertrag, der so lange gilt, wie beide der Beziehung zustimmen. Wenn sich das ändert, muss neu verhandelt werden. Das Leben ist Veränderung. Darum hast auch Du das Recht Dich zu verändern, zu wachsen, Fehler zu machen, frühere Zustimmungen und Abmachungen zu widerrufen und dein Beziehungsbild an deine jeweiligen Bedürfnisse anzupassen. Das ist ein kontinuierlicher Prozess des Wachstums und nicht immer einfach. Aber das ist das Leben in einer unbewussten Beziehung oder in Isolation ja auch nicht J.
11) Prinzip der Kooperation
Beziehung ist ein großes solidarisches Miteinander. Es ist ein gemeinsames Wachsen, Lernen und Gestalten und gegenseitiges Unterstützen und co-kreieren. Gerade in einer Zeit in der der Mensch sich immer mehr von seiner Spiritualität, der Natur und der Gemeinschaft abgetrennt fühlt und ein globaler Zusammenbruch vertrauensbildender Mechanismen stattfindet, braucht es eine Besinnung auf Kooperation und Solidarität.
Dazu gehört auch die Bereitstellung von Entfaltungsbedingungen und die Förderung von Handlungsspielräumen.
Außerdem braucht Liebe eine soziale Struktur – die Einbettung der Liebesbeziehungen in ein größeres, sie nährendes und an die universelle Beziehungsethik erinnerndes Wir-Feld in Form von Freunden, Gruppen, Netzwerken oder Gemeinschaften.
12) Geben & Nehmen in Balance
Dabei geht es nicht um ein gegenseitiges Aufrechnen, sondern ob man grundsätzlich abwechselnd in die Rolle des Gebens und Nehmens schlüpfen kann. Ob wir fähig sind, unseren abhängigen und unabhänigen Teil in uns in Balance zu bringen. JA – wir sind uns unserer Autonomie bewusst. Aber auch, dass wir als Menschen einander brauchen und bedürfen ohne dabei aus unserer Autonomie herauszufallen.
13) Traumaarbeit
Diese Art der Beziehungsethik scheitert in der Praxis meist nicht am Wollen, sondern am Können. Individuelle und kollektive Traumen, Verletzungen und Muster führen uns oft in Konflikte, die es uns schwer machen, diesen Rahmen zu halten. Deswegen ist die psychisch-emotionale bzw holistische Arbeit an Beziehungsfähigkeit, Bindungsmustern, Traumen und Wunden wichtig, um genug Bewusstseins-Ressourcen für diese Art von Beziehung zur Verfügung zu haben.
14) Wir müssen uns nicht trennen
Zuguterletzt ist es ein unterstützender Gedanke, wenn man sich vor Augen führt, dass wenn eine Beziehung nicht mehr so gut “paßt” oder “funktioniert”, man sich nicht zwingend trennen muss, sondern sich vielleicht nur die Form der Beziehung verändern kann (zB von der Liebesbeziehung zur Freundschaft oder vom Liebespaar zum Eltern-Sein)
PS: Da wir beim ersten Punkt der Egalität leider als Gesellschaft noch lange nicht dort sind, wo wir sein müssten, um wirklich gleiche soziale Möglichkeiten zu haben, ist es wichtig, dass wir achtsam sind, wo Ungleichgewichte und Asymmetrien bestehen (bezüglich Ressourcen, Voraussetzungen usw.) oder wo es zu Schwankungen auf der Machtwippe kommt, damit wir diesen Einflüssen bewusst begegnen können (Geschlechterasymetrien, ökonomische Wahrheiten …)
Inspirationsquellen:
Anthony Giddens – “Transformation of Intimacy – Sexuality, Love & Eroticism in Modern Society”
Eva Illouz “Warum Liebe endet”
Imre Hofmann – “Skizze einer universellen Beziehungsethik” (in: “Die andere Beziehung”)
Franklin Veaux – “More Than Two”
Grundsätze der Liebesschulen im ZEGG & in Tamera
uvm.