Gedanken über Liebe & Frieden
Dieses Jahr war bisher in gewisser Hinsicht eine kleine Pilgerreise zu realen und inneren Orten von Liebe & Frieden. Die physische Reise führte mich dabei zB. ins ZEGG (= Zentrum für Experimentelle GesellschaftsGestaltung) nahe Berlin und nach TAMERA in Portugal. Beides sind Projekte die schon seit einigen Jahrzehnten bestehen und die sich im Kern der Frage widmen, wie Menschen besser zusammenleben können. Der Sinn dieses großen Bemühens ist es, Antworten für globale Fragen zu finden, die zu mehr Frieden auf unserem Planeten beitragen.
Dabei geht es um große Themen wie eine gerechte Ökonomie, eine nachhaltige Ökologie in Verbindung mit zukunftsweisender Technologie und politischen Aktivismus – alle mit dem Ziel eines grundlegenden Systemwandels.
Solche idealistischen, holistischen und ambitionierten Projekte sind an und für sich schon beeindruckend. Am beeindruckendsten für mich ist aber der Fakt, dass bei beiden Projekten, das Thema der Liebe und der Gemeinschaft ganz im Zentrum der Forschung steht.
Die Liebe hat im geistigen Aufbau dieser Projekte also nicht den Stellenwert einer Privatsache und wird auch nicht als spiritueller oder romantischer Luxus angesehen. Nein – die Liebe hat dort einen zentralen Stellenwert und ist auch politischer Natur. Die Frage der Liebe ist also eine der dringlichsten Fragen und sitzt im Kern der Antworten auf die Fragen nach einem Systemwandel.
Denn wenn es eine Gemeinschaft von 80 oder 200 Menschen nicht schafft, in Liebe und Achtung miteinander zu leben, und in Achtung vor der sie umgebenden Natur, die auch alles tierische und pflanzliche Leben miteinschließt, wenn sie nicht Lösungen dafür entwirft (und auch praktisch lebt) wie man tagtäglich miteinander kooperieren kann, anstatt sich gegenseitig zu bekämpfen, wie soll es dann auf globaler Ebene gelingen.
“Im Kern geht es um die Frage – Wie können wir miteinander leben?! Wie können wir wieder in Gemeinschaft leben?!”
Dabei ist nicht zwingend eine Gemeinschaft im Sinne einer Kommune oder Wohngemeinschaft oder religiösen Gemeinschaft gemeint, sondern vielmehr der Geist / der “Spirit” einer Gemeinschaft, der von großen Wörtern geprägt ist wie Solidarität, Gegenseitigkeit, Kooperation, Liebe, Vertrauen, Eingebunden-Sein oder Verlässlichkeit.
Die ehrgeizige Aufgabe von Modellprojekten wie dem ZEGG oder TAMERA ist es, ein Bild von Gemeinschaft zu entwerfen, welches es in der Menschheit in der Form bis jetzt vielleicht noch nie gegeben hat. So wie wir heute, haben viele unserer Vorfahren in früheren Zeiten nicht nur die Lichtseiten von Gemeinschaft (oder fehlender Gemeinschaft) erlebt, sondern auch die Schattenseiten.
Oftmals gab es in früheren Gemeinschaften aller Art, die noch weniger individualistisch geprägt waren als die heutigen, Verbundenheit und Solidarität nur zum Preis der Unterdrückung und totaler Unterordnung eigener Freiheit und individueller Bedürfnisse.
Und heute Erleben wir gerade in westlichen, kapitalistisch-individualisierten Gesellschaften zwar ein Gefühl von Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung – jedoch zum Preis von immer mehr Isolation, mangelnder Solidarität, einer zunehmenden Beziehungsunfähigkeit und Liebesverlust. (Wen die Faktenlage zu diesem Thema interessiert – die bekannte Soziologin Eva Illouz hat hierzu ein spannendes Buch mit dem Tital “Warum Liebe endet” geschrieben)
Nach meinem Gefühl, hat uns vor allem die Zeit des Faschismus (besonders den Deutschen und Österreichern) ein extrem ambivalentes Gefühl hinsichtlich Gemeinschaft beschert. Ich möchte das jetzt hier an dieser Stelle überhaupt nicht ausführen und auch nicht kommentieren. Aber vielleicht magst Du Dir diese Frage in einer ruhigen Minute mal durch den Kopf gehen lassen. Was hat die Art von Gemeinschaft und Gemeinschaftsgefühl das in der Nazi-Zeit kreiert wurde, mit unserem heutigen Blick auf Gemeinschaft angerichtet. Womit hat es Dich als Individuum und uns als Kollektiv im Guten und Schlechten zurückgelassen? Was von damals ist vielleicht heute noch in Dir / uns lebendig?
Wir stehen als Menscheit heute vor der großen Frage, wie wir Liebe und Gemeinschaft in einer Art und Weise leben können, die uns Verbundenheit (Prinzip der Kooperation) und Freiheit (Prinzip der Autonomie) gleichermaßen erleben lässt, so dass sich die zwei Prinzipien ergänzen anstatt sich gegenseitig zu widersprechen.
Wie können wir uns in eine Gemeinschaft einfügen – ohne die Angst haben zu müssen, dabei unsere Eigenständigkeit zu verlieren.
Und wie können wir – eingebunden in eine Gemeinschaft – unsere Wahrheit leben, ohne die Angst haben zu müssen, aus der Verbundenheit zu fallen.
Die Antworten auf diese Fragen werden Menschen wahrscheinlich noch Generationen beschäftigen, sofern wir uns davor nicht schon selbst ausgelöscht haben. Aber in der intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema und inspiriert von Pionier-Gemeinschaften wie dem ZEGG und TAMERA gibt es einige Prinzipien, die mir auch in meiner weiteren Arbeit als “guiding-light” dienen:
1) Der “geschützter Raum”
Der geschützte Raum ist das Kernelement einer Lern- und Heilungskultur. Bevor sich ein lebendiges Wesen öffnet und neugierig die Welt entdeckt, muss es spüren, dass es sicher ist und sich entspannen kann. Der Spiel- und Explorationstrieb setzt dann ein, wenn ein Mensch ein grundlegendes Vertrauen entwickelt hat. In Tamera hat man den Begriff des “Heilungsbiotops” entwickelt, welches definiert ist als Raum, in dem alle Beteiligten die gegenseitige Entwicklung und Heilung fördern. Das erfordert eine Haltung von Offenheit, Akzeptanz und Nicht-Wertung. Man muss seine eigenen Erfahrungen und seine eigenen Fehler machen dürfen, damit man aus ihnen lernen kann. So ein vertrauenvoller Raum hat ein sicheres stabiles Zentrum welches Halt und Struktur gibt und gleichzeitig flexible Grenzen, die man öffnen und überschreiten kann, um immer wieder über sich selbst hinauszuwachsen.
2) Vertrauen & Ehrlichkeit
So ein sicherer Raum des Vertrauens setzt Wahrheit und Ehrlichkeit voraus. Ich kann nur vertrauen, wenn ich wahrgenommen werde und den anderen wahrnehme. Wenn sich Menschen nicht zeigen wie sie wirklich sind, dann können sie auch nicht wahrgenommen werden als das was sie sind. Sie sind dann nicht greifbar und spürbar. Ich kann mich dann nicht auf sie verlassen, weil ich sie nicht erkennen kann und somit nicht kenne. Darum ist es wichtig soziale Strukturen und Kulturen zu schaffen, in denen Menschen sich nicht mehr verstellen und lügen müssen um Akzeptanz – und somit den sicheren Raum – zu erfahren.
3) Das Prinzip Zärtlichkeit
Jean Paul Satre bezeichnet Zärtlichkeit als eine Existenzweise. In einem tief berührenden Vortrag spricht der verstorbene Schweizer Autor und Psychotherapeut August Hohler von Zärtlichkeit als einem primären Lebensprinzip und als Fundamentalökologie.
“Zärtlichkeit , die friedliche, willkommene Grenzüberschreitung hinüber zum Du, steht als Prinzip der Bejahung, Berührung und Vereinigung gegen das Prinzip der Verneinung, Abkapselung, Vernichtung. Es geht schon um Frieden und Krieg, Leben und Tod.”
In einer Haltung der Zärtlichkeit bin ich mir meiner Offenheit, Empfänglichkeit, Zartheit und Verletzlichkeit bewusst. Dadurch ensteht eine demütige Haltung dem Leben gegenüber und mit ihr der Wunsch nach Kooperation, liebender Sorgfalt und Fürsorge dem Menschen und der Mitwelt gegenüber.
4) Freiheit:
“Freie Liebe” ist eigentlich eine Tautologie. Denn Liebe IST ihrem Wesen nach frei. Es gibt kein Gegenteil. Freiheit in Beziehungen und Gemeinschaften hat viel damit zu tun, eine Balance zur oben beschriebenen zärtlichen Verbundenheit zu finden, in dem ich den anderen nicht nur halten, sondern auch lassen kann, in dem ich dem anderen nicht nur in seiner Ähnlichkeit begegne, sondern sein Anders-Sein anerkenne, in dem ich ihm nicht nur Geborgenheit geben kann, sondern ihn auch dabei unterstütze, sein eigenes Wesen zur Entfaltung zu bringen.
5) Spiritualität
Oftmals versuchen Menschen heutzutage in ihren Beziehungen etwas zu finden, was sie eigentlich nur bei “Gott” suchen sollten und finden können. Mit dem Verlust der spirituellen Anbindung in der modernen Welt und gleichzeitigem Zusammenbruch von Gemeinschaften und der fortschreitenden Individualisierung ist bei vielen ein Vakuum des Eingebunden-Seins entstanden, welches durch virtuelle Schein-Beziehungen, Arbeit, Konsum oder anderen “Ersatzgöttern” gefüllt wird. Die Wiederanbindung durch eine zeitgemäße Spiritualität und eine spirituelle Praxis der Verbundenheit hat in ZEGG und TAMERA mit Recht einen großen Stellenwert.
Viele Erfahrungen haben mich in diesem Jahr tief berührt und fließen auch in die Liebesschule und die Liebeslernorte mit ein, für die ich gerade eben aus diesen und anderen Gedanken eine ethische Richtlinie entwickelt habe. Ich freue mich darauf mit anderen die sich gerufen fühlen diesen geschützten Raum aufzubauen, in dem wir gegenseitig unser Vertrauen nähren können, in dem wir uns wahrhaftig und ehrlich begegnen, in einer liebevollen und zärtlichen Fürsorge füreinander und im Feiern und gegenseitigem Fördern unserer Freiheit sowie im Angebunden-Sein durch eine zeitgemäße Spiritualität.
Links:
Liebes-Schule.at
ZEGG Homepage
TAMERA Homepage
Thomas Hübl – Kollektive Traumaheilung & Lehrer einer zeitgemäßen Spiritualität
Eva Illouz – Warum Liebe endet (Buch)
Dieter Duhm – Der archimedische Punkt ist die Liebe (Artikel)
Dieter Duhm – Terra Nova – Globale Revolution und die Heilung der Liebe (Buch)
August Hohler – Zärtlichkeit und Treue (Text)
Alexandre Jardin – Die Insel der Linkshänder (Roman)