Treue ist Liebe – Untreue auch!
Max und Christine sind ein Paar das sich liebt. Christine ist das Gefühl von Sicherheit & Geborgenheit in ihrer Beziehung total wichtig – Max ist einer Öffnung der Beziehung jedoch nicht abgeneigt und will seine Neugier nach dem Unbekannten leben. Diese zwei unterschiedlichen Bedürfnisse beschäftigen die beiden seit einiger Zeit. Max lernt im Urlaub Lola kennen und würde ihr gerne „näher kommen“. Wird er treu bleiben?
Ich sage JA – und zwar egal wie er sich entscheidet.
Folgt Max nicht dem Ruf des Abenteuers, bleibt er Christine und ihrem Wunsch nach Sicherheit und Exklusivität der Intimität in ihrer Paarbeziehung treu. Das zeigt seinen Respekt, seine Achtung und seine Wertschätzung für die Bedürfnisse von Christine.
Lässt er sich auf Lola ein, ist ihm die Treue zu sich selbst und seinem Bedürfnis nach Neugier und sinnlichem Neuland wichtiger. Er begegnet seinen eigenen Bedürfnissen mit Authentizität & Integrität.
Sieht nach einer ziemlichen Zwickmühle aus! Entweder – oder?
„Sowohl als Auch“ würden Lisa Fischbach & Holger Lendt – die beiden Autoren des Buches „Treue ist auch keine Lösung“ – sagen. Denn dort präsentieren die beiden eine Lösung der 3. Art – die beginnt sich zu offenbaren, wenn wir anfangen der Liebe treu zu werden.
Diesen 3. Weg möchte ich in diesem Artikel ein wenig skizzieren.
In jedem von uns existieren zwei elementare Bedürfnisse.
1) Das Bedürfnis nach Sicherheit & Beständigkeit und
2) Das Bedürfnis nach Wachstum & Wandel
„Sie stehen sich unvereinbar gegenüber und doch tragen wir beides in uns, den Wunsch nach Festigkeit, Zugehörigkeit hier und die Sehnsucht nach Neuem dort. Wir scheinen weder gemacht zu sein für die schrankenlose Freiheit noch für die totale Sicherheit – entweder fehlt uns der Boden unter den Füßen oder die Luft zum Atmen. Was könnte beide zusammenbringen? Vielleicht … Liebe!“
(alle kursiv gedruckten Inhalte ab hier sind Zitate aus dem oben erwähnten Buch)
3 Fragen zur Liebe
Liebe fängt immer bei uns selbst an. Sicher hast Du auch schon gehört, dass man andere immer nur so tief lieben kann, wie sich selbst. Um sich also selbst lieben und sich treu sein zu können, bietet sich eine Grundfrage des Menschen an:
WER BIN ICH? Und was brauche und will ICH wirklich?
Die Antwort auf diese Fragen ergibt sich durch das Erforschen meiner Bedürfnisse und Wünsche, meiner Motive und Beweggründe, meine Muster und Sehnsüchte. Durch den Weg der Selbsterkenntnis kann ich mir selbst immer näher kommen und einen stimmigen „Anker-Platz“ in mir finden – eine Art Zentrum meines ICH´s. Wenn ich mir der aktuellsten Koordinaten dieses Platzes bewusst bin – und nur dann – kann ich authentisch in Beziehung treten. Erst dann macht es eigentlich Sinn eine zweite Frage zu stellen:
WER BIST DU? Und was brauchst & willst DU?
Wenn ich mit der Bereitschaft durch die Welt gehe, meinem Gegenüber mit der selben Neugier und Offenheit zu begegnen wie mir selbst, dann werde ich auch die Bedürfnisse, Wünsche und Motive des DU erkennen und in einer Partnerschaft den angemessenen Raum und die notwendige Wertschätzung geben.
So weit so gut. Was aber, wenn sich diese Bedürfnisse – so wie bei Max & Christine – manchmal diametral gegenüberstehen?
„Es ist wenig liebevoll gegenüber Anderen, wenn wir nur tun, was wir selber wollen. Und es ist wenig liebevoll gegenüber uns selbst, wenn wir allzeit tun, was andere wollen.“
Was tun? – Sich eine dritte Frage stellen … und zwar:
WER SIND „WIR“?
Klingt banal? Ist es aber nicht. Meiner Erfahrung nach ist es genau diese Frage, die sich die meisten Paare (leider) nicht bewusst stellen – sie ist die berühmte „heiße Kartoffel“ die so lange liegengelassen wird, bis sie manchmal zu kalt wird um noch zu schmecken.
Warum?
Weil die Antwort von der Beziehungsmoral der Gesellschaft vorgegeben scheint. Wo bleibt da die Freiheit fragt sich die Liebe? Es ist nämlich etwas ganz anderes zB. eine bewusste Entscheidung für eine monogame Lebensform zu treffen, als einfach so zu leben, weil (fast) alle das tun.
Die Frage „Wer sind WIR“ beinhaltet eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Wesen der Partnerschaft und ihren Grenzen. Welche Absprachen treffen wir bewusst? Für welche Commitments wollen wir uns entscheiden? Wie halten wir es mit der Balance von Sicherheit & Neugier? Welchen Raum geben wir unseren Treue- und „Untreuebedürfnissen“?! Dürfen diese überhaupt zur Sprache kommen? Welche Ängste, Sehnsüchte und tieferen Wünsche gibt es in jedem von uns und dürfen diese einfach „sein“? Haben beide Partner den Mut sich in ihrer Verbindung so zu zeigen wie sie sind? Was halten beide zurück – aus Angst den Anderen zu verletzen?
Diese Fragen sind für mich der Kern einer wirkliche intimen Beziehung. Sie bergen gleichzeitig das Potential in sich, der Beziehung ungeahnt Tiefe und Nähe zu verliehen, als auch die explosive Kraft, diese zu zerreißen. Oft stellen sich Paare diese Fragen erst dann, wenn sie mit dem Rücken zur Wand stehen und ein Seitensprung aufgeflogen ist oder gebeichtet wurde.
Viel gesünder wäre es, diese Fragen schon zu klären, bevor es dazu kommt. Denn diese Fragen und ihre Beantwortung bilden einen schützenden Rahmen für ein längerfristiges gemeinsames Wachstum – wie der Kessel der notwendig ist, damit es darin zu einer alchemistischen Verbindung kommen kann – damit Blei zu Gold werden kann. Obwohl es in keiner Art von Beziehung eine Garantie gibt – die gibt es nirgends – verleiht solch eine bewusst gewählte Auseinandersetzung mit diesen Fragen – und die daraus abgeleiteten Spielregeln – einer Beziehung Festigkeit, Standhaftigkeit, Verlässlichkeit und ein Mindestmaß an Vorhersagbarkeit.
„Wer sind WIR?“ beinhaltet unbewusst auch die Frage „Warum überhaupt Beziehung mit Dir?“ Bin ich mit Dir zusammen, weil ich mir erwarte, dass das Leben durch Dich „angenehmer“, „schöner“ und „einfacher“ wird (was immer das genau heißen mag) oder bin ich (auch) mit Dir zusammen, weil ich mit und an Dir wachsen kann und will?!
Dynamische Treue
Alle oben genannten Fragen sollte sich ein Paar in regelmäßigen Abständen immer wieder stellen – zumindest wenn das Paar eine „lebendige Beziehung“ möchte und keine tote. Denn wir lieben etwas, weil etwas lebendig ist, weil wir uns dann im „Fluss“ der Dinge erleben – im sogenannten „Flow“. Wollen wir die Dinge festhalten und in Stein meißeln wäre es so, als wollten wir die Freude an einem sprudelnden Bach in einem Eimer nach Hause tragen.
Für alle die dieses abgestandene Wasser aus dem Eimer bevorzugen, haben Lisa Fischbach & Holger Lendt auch eine Formel …. für das totsichere Ende jeder Lebendigkeit in einer Beziehung.
Diese liest sich abgekürzt so: AMEFI
„Alles Mit Einem Für Immer“
Sich mit der AMEFI-Illusion und den tiefschürfenden Fragen dahinter auseinanderzusetzen, kann viele Widerstände erzeugen und schmerzliche Gefühle, Zweifel und Ängste an die Oberfläche bringen. Sie kann das Paar aber auch ganz weit bringen – vor allem mehr zu sich selbst. Es ist gut sich für diesen Prozess Zeit zu nehmen und nichts zu erzwingen. Am Ende eines solchen Prozesses steht im besten Falle eine total einzigartige Paar-Vereinbarung, die sowohl die Treue zu sich selbst, zum Partner und zur Liebe beinhaltet. Eine solche Vereinbarung hätte es mitunter ermöglicht, dass Max sich selbst treu bleiben kann, ohne Christine untreu zu werden.
Eine gibt eine Qualität an die wir auf diesem spannenden Weg immer wieder andocken können – Vertrauen!
Von der Treue zum Vertrauen:
Im Gegensatz zur „Bis dass der Tod Euch scheidet“-Treue ist Vertrauen kein naives oder stures Festhalten an absoluten Sicherheiten. Vertrauen ist immer ein Geschenk – ein Geschenk welches uns ermöglicht uns der Welt gegenüber vertrauensvoll zu öffnen – im vollen Bewusstsein unserer Verletzlichkeit. Insofern beinhaltet Vertrauen auch den Mut sich immer und immer wieder zu trauen, ins Leben zu gehen. Die Hoffnung auf Treue macht uns eng und zwingt uns in die Passivität. Die Übung des Vertrauens bringt uns in die Öffnung und ermächtigt uns zu Wachsen.
Insofern ist es viel besser einen positiven Treuebegriff zu formulieren – also zB „Liebe Mich!“ anstatt „Liebe niemanden außer mich!“
Wie viel besser und gesünder wären Beziehungen wenn alle (schein)heiligen Versprechungen, unerreichbaren Ideale, alle moralischen Zeigefinger, faulen Kompromisse und nicht hinterfragten und ungesunden Treue-Schwüre („bis dass der Tod Euch scheidet) abgelöst würden durch ein Bekenntnis zur Lebendigkeit der Liebe und dem Wunsch sich mit seiner ganzen Präsenz und Kraft in eine Beziehung einzubringen. Aus vollem Herzen zu lieben – mich selbst, den Partner, die Welt & das Leben.
In meiner Welt bin ich absolut überzeugt davon, dass die Qualität einer Beziehung sich vervielfachen würde, wenn jedes Paar sich damit befassen würde, welche Qualitäten und Handlungen VERTRAUEN schaffen, statt unhinterfragt sexuelle oder emotionale Exklusivität automatisch als „Treue“ zu bezeichnen. Wenn Treue lebendig würde durch die Kraft meines Commitments einer Partnerschaft gegenüber – einer Partnerschaft, die soviele verschiedene Rahmen haben kann, wie es Verbindungen zwischen Menschen gibt.
Gegen Ende des Artikels möchte ich Dich noch auf ein Gedankenexperiment einladen:
Stell Dir vor Dein Partner ist in seiner Beziehung zu 100% präsent. Er engagiert sich für Nähe, respektiert seine UND Deine Bedürfnisse, engagiert sich für eure Paarbeziehung und seine eigene Entwicklung, er zeigt sich authentisch und lebt und liebt mit offenem Herzen … und würde es auch bis an Dein Lebensende tun … aber Du müsstest in Kauf nehmen, dass er Dir einige Male während eurer Lebenszeit „untreu“ (im Sinn sexueller Exklusivität) wäre.
Und jetzt stell Dir vor es gäbe einen Partner der Dir absolut treu wäre – der aber immer wieder in seine Arbeit oder seine Hobbys flüchtet, der sich nicht zu 100% für Dich oder Euch engagiert, der Dich nicht wirklich „sieht“ und der nicht darauf aus ist, sein volles Potential auszuschöpfen … ein Leben im „Mittelmaß“ … jedoch sexuell treu.
Was würdest Du wählen?
Vermutlich am liebsten eine Kombination aus beidem 🙂 … keine Angst – Du musst Dich gar nicht entscheiden.
Denn ich vertraue darauf, dass Du einen Rahmen der Treue und für Dich und Deinen Partner findest, der es Dir ermöglicht Dir selbst und der Liebe treu zu sein und im Vertrauen miteinander zu wachsen. Das erfordert Hingabe und führt uns in die Freiheit.
Und wie hat sich Max entschieden? Wem ist er treu geblieben? Wir werden es nie erfahren. Aber das ist auch nicht wichtig. Wichtiger wäre es, dass DU DICH fragst …
Was würdest DU derzeit in seiner Situation tun und warum?
Was ist Deine tiefste Sehnsucht die Liebe betreffend?
Was wäre der nächste Schritt in diese Richtung?
Was würde Dir dieser Schritt bringen & was würde er Dir kosten?
Bist Du bereit ihn zu gehen?
Was brauchst Du / ihr um ihn zu gehen bzw Dich zu trauen?
Wann fängst Du damit an und warum nicht schon früher?
Tipps zum Thema:
„Treue ist auch keine Lösung“ – das wunderbare Buch von Holger Lendt & Lisa Fischbach das ich jedem wärmstens an Herz legen möchte, den diese Zeilen berühren oder auch aufwühlen. Ein Buch das einen – auch wenn es viele beim Lesen zwischendurch an die Wand knallen möchten – letztlich zu mehr Freiheit in der Liebe führen kann, wenn man es mit offenem Herzen liest.
„Die Liebe“ – das wohl beste Buch über die Liebe – von Peter Lauster
„Untreue überdenken – Ein Vortrag für jeden der jemals geliebt hat“ – ein TedTalk von Esther Perel
„Is it EVER Okay to Cheat in a Relationship?“ – Kurzvideo von Kute Blackson (English)