Warum achtsame Berührung die Urform der Heilung ist

„Wir brauchen 4 Umarmungen pro Tag zum Überleben, 
 8 Umarmungen pro Tag zum Leben & 12 Umarmungen pro Tag für Wachstum.“
(Virginia Satir)

In unserem privaten und beruflichen Leben haben wir erfahren, wie wichtig Berührung für unser Wohl- befinden und unsere Entwicklung ist. Dabei hat jedoch die Bewusstheit und Geisteshaltung mit der be- rührt wird, einen ganz entscheidenden Einfluss auf die Auswirkung der Berührung – egal ob in einer El- tern-Kind-Beziehung, einer Freundschaft, der Paar-Beziehung oder der Sexualität.

Wir wenden achtsame Berührungsformen seit einigen Jahren in unserer Praxis an und sind immer wie- der aufs Neue erstaunt über die Wirkung auf Körper & Seele der Menschen. Wir haben für Euch etwas Material zu diesem Thema aufbereitet, das gut erklärt, warum Achtsamkeit & Berührung solch heilende Kraft in unserem menschlichen Erleben entfalten kann.

A) Achtsamkeit – eine heilende Geisteshaltung

Achtsamkeit ist eine natürliche menschliche Geisteshaltung und bedeutet eine bewusste, nicht- wertende Aufmerksamkeit. Sie beinhaltet unmittelbar präsent und entspannt im gegenwärtigen Augenblick zu SEIN, ohne durch den Filter des kognitiven Geistes das Erlebte zu etikettieren, zuzuordnen oder zu inter- pretieren. Diese „Sein-Lassen“ der Dinge im Außen wie im Innen wird als tiefe Gelassenheit und Verbun- denheit erlebt. Die Erfahrungsintensität des Augenblicks wird um ein vielfaches intensiviert – die Welt wird lebendiger, intensiver, farbiger und die Fähigkeit des Genießens wird erhöht.

Achtsamkeit heißt offen und sensibel zu sein für Neues, die Welt mit den Augen eines neugierigen Kin- des zu betrachten. Sie entspricht dem „Anfängergeist“ der Zen- Buddhisten. Man kann flexibler und lang- fristig erfolgreicher reagieren. Man wird zunehmend frei zu von konditionierten Denk- und Handlungsre- flexen. Es fällt einem leichter, zu neuen Sichtweisen zu kommen und Veränderung und Entwicklung zu fördern.

Auswirkungen von Achtsamkeit:
Untersuchungen haben gezeigt, dass achtsames Gewahrsein positiven Einfluss auf die Körperphysiologie hat: Heilungschancen werden verbessert, die Immunreaktion wird gestärkt, die Bewältigung und der Ab- bau von Stress werden erleichtert, das allgemeine körperlich-psychische Befinden wird verbessert, die Fähigkeit, sich zu entspannen erhöht sich, das Selbstvertrauen und die Selbstakzeptanz vergrößern sich, es kann ein kreativerer Umgang mit Angst entwickelt werden, die Körperweisheit blüht auf und es ent- steht mehr Energie und Lebensfreude!

Achtsamkeit und Beziehung:
Nie zuvor in der Geschichte wurde das menschliche Gehirn so mit Reizen bombardiert wie in der moder- nen Zeit. Es spricht dabei einiges dafür, dass das Gehirn sich vor dieser Reizüberflutung mit verschiede- nen Maßnahmen schützt, wie Geistesabwesenheit, „weggetreten sein“, „Ausfälle“ usw.. Offenbar hat sich der moderne Mensch daran gewöhnt mit „weit geschlossenen Augen“ durchs Leben zu gehen. Besonders in sozialen Kontakten wirkt sich diese Geistesabwesenheit in Form von Unachtsamkeit im Umgang mit anderen aus.

Achtsames Wahrnehmen fördert somit nicht nur die Selbstwahrnehmung, sondern auch die Fähigkeit des-in-den-Anderen-Einfühlens, die Fähigkeit, nonverbale emotionale Signale wahrzunehmen und so- mit das Innenleben des Anderen zu erfassen. Auf diese Weise wird an Gefühlen des Anderen teilgenom- men und nachempfunden und die psycho-emotionale Kommunikation wird gestärkt. Achtsamkeitspra- xis führt durch das Einüben von bedingungsloser Akzeptanz zu einer Haltung von “Liebevoller Güte”.

B) Berührung – Grundnahrung für die Seele

Erkenntnisse aus Entwicklungspsychologie, Bindungs- und Säuglingsforschung weisen auf den prägen- den Faktor der taktilen Berührung in der Mutter-Kind Beziehung während der ersten Lebensmonate hin. Demnach ist Berührung ein basales Grundbedürfnis des Menschen – gleich wie das Bedürfnis nach Licht, Schlaf, Essen/Trinken und nach Anerkennung und Liebe. Die Bindung zwischen Mutter und Kind besteht zu Beginn fast ausschließlich aus Berührungen und Umarmungen und die ersten Informationen fließen gänzlich über diesen Kanal. Das Bedürfnis nach Körperkontakt und Berührung ist vermutlich das grundlegendste und ureigenste Verlangen des Menschen.

Störungen bei „Kontaktunterbrechung“
Bleibt dieses elementare Berührungsbedürfnis unbefriedigt, kann es beim Säugling zu ernsthaften Stö- rungen der grundlegenden Prozesse des Körpers führen, zur Entwicklung extremer Ängste, zu einer ein- geschränkten Persönlichkeitsentwicklung bis hin zu schweren psychischen Störungen. Ein Mensch kann beispielsweise leben wenn er blind und taub ist, aber ohne die Funktion der Haut ist er nicht überlebensfähig.

Der Tastsinn und das Erleben der Welt
Der Tastsinn wird als “Mutter der Sinnesorgane” bezeichnet, weil er sich in der Evolution als erster Sinn entwickelt hat. In der embryonalen Entwicklung gehen Haut und Nervensystem aus demselben Keim- blatt hervor, dem Ektoderm. Dabei entsteht das Zentralnervensystem als innerer Teil der Haut des Em- bryos. Man könnte somit die Haut als externes Nervensystem betrachten.

Der Tastsinn ist die Grundlage des „In-der-Welt-Sein“, denn er ist das Medium, welches dem Menschen die Orientierung in Raum und Zeit ermöglicht. Der Tastsinn ist der Sinn, mit dessen Hilfe der Mensch die Welt erlebt und formt. Er ist sein wichtigstes Kommunikationsmittel. Berührung unterscheidet sich grundlegend von der Sprache, weil sie Emotionen, Empfindungen und Botschaften vermitteln kann, die durch Sprache nicht vermittelbar sind.

“Wir müssen durch Berührung kommunizieren, es ist unsere ursprüng- lichste Sprache und in seiner höchsten Form nichts anderes als Poesie. Genauso wie wir darüber sprechen müssen, wie wir uns fühlen und was wir denken, müssen wir auch durch unseren Körper und unsere Hände sprechen. Ebenso wie wir intellektuell und emotional verstanden werden wollen, sehnen wir uns auch danach physisch verstanden zu werden.”

(Louka Leppard – Begründer der „Tulamassage“)

Berührung & Gehirn:
eurobiologische Studien zeigen eindrucksvoll das Zusammenspiel der menschlichen Haut, Taktilität und der Entwicklung entsprechender neuronaler Netzwerke im menschlichen Gehirn. Das Wachstum und die Entwicklung der Haut dauern das ganze Leben an und hängen weitgehend davon ab, welche Art von Umweltreizen auf sie ausgeübt wird. Taktile Berührung erzeugt nicht nur eine neuronale Wirkung im ZNS, sondern regt auch die Produktion von Neurotransmittern im peripheren Gewebe an. Die wichtigsten Stoffe, die bei Berührung angeregt werden und eine Rolle spielen, sind Oxytocin, Endorphine und diverse Neurotransmitter. Sie haben unter anderem folgende Wirkungen auf den menschlichen Körper und die menschliche Psyche:

• die Grundstimmung des Menschen wird positiv beeinflusst
• das sozialen Kontakt- und Bindungsgefühls wird gestärkt
• Stress wird besser reguliert und die Schmerzschwelle erhöht sich • die Wundheilung wird stimuliert
• Pulsfrequenz und Blutdruck werden reguliert
• die Verdauung wird angeregt
• emotionale Stabilität und Zentriertheit wachsen
• der Schlaf-Wach-Rhythmus wird harmonisiert

Die Qualität der Berührung:
Entscheidend dafür, wie das Kind sich selbst und die Welt erfährt, ist dabei die Art und Weise WIE berührt wird – d.h. die Berührungsqualität. Sichere Bindung zwischen Mutter und Kind entsteht zu Beginn fast ausschließlich aus achtsamen und liebevollen Berührungen und Umarmungen. Für das neugeborene Selbst ist nichts prägender als die Liebe die aus verschiedenen Arten der Berührung spricht.
Wenn die Bezugsperson sich im Zustand der Achtsamkeit befindet und dementsprechend mit mitfühlen- der nicht-wertender Aufmerksamkeit berührt, scheint dies eine der Grundvoraussetzung für eine sichere Bindung zu sein und somit für eine gesunde psycho-emotionale Entwicklung. Achtsamkeit und das Erle- ben einer empathischen Mutter-Kind-Beziehung aktivieren auch dieselben neuronalen Schaltkreise des Gehirns.

Es ist nie zu spät für eine gute Kindheit
Selbst wenn wir als Kind nicht bekommen haben, was wir vielleicht gebraucht hätten – die gute Nach- richt ist, dass sich unser Gehirn bis zu unserem Tod immer wieder neu verdrahtet und wir diese Bedürf- nisse „nachnähren“ können. Oftmals ist hierfür eine achtsame und einfühlsame therapeutische Berüh- rung heilsamer als die „normale“ Berührung im Beziehungsalltag. Die Erfahrung zeigt, dass eine achtsa- me Berührungspraxis eine Möglichkeit darstellen kann, eine durch unsichere Bindungs-Erfahrung geprä- gte Persönlichkeitsstruktur zu verändern, „eine korrigierende Erfahrung“ zu machen und dadurch positi- ve psycho-emotionale Verhaltensmuster aufzubauen.

Die Auswirkungen achtsamer Berührung:
Über hundert Studien am nationalen Berührungsforschungsinstitut in Miami, USA belegen zB. seit Jah- ren die positiven Auswirkungen von therapeutischer Berührung. Ausgehend von den Erkenntnissen der Neurowissenschaft die darauf hindeuten, dass Sinneserfahrung und ihre neuronale Verarbeitung Ein- fluss auf die Plastizität des Gehirns hat, lässt die Schlussfolgerung zu, dass taktile Berührungserfahrung, ausgeführt mit Achtsamkeit und Fürsorge, ein wesentlicher und wahrscheinlich der wichtigste Faktor in der somatischen, emotionalen und sozialen Entwicklung des Menschen darstellt. Achtsame Berührung ist ein Weg, dem Gegenüber eine Hilfestellung zu geben, sich zu entspannen, seine Selbstwahrnehmung zu fördern, seine Fähigkeit Gefühle zu regulieren zu stärken und Präsenz und Achtsamkeit zu fördern.

Linderung & Heilung bei Depression und Traumen:
Untersuchungen und Beobachtungen weisen darauf hin, dass Berührung eine hochwirksame Methode zur Verringerung von Angst und Stress ist und zur Schaffung von Empfindungen des Vertrauens und Wohlbefindens führt. Massage-Therapie lindert auch signifikant die Symptomen depressiver Menschen. Studien haben gezeigt, dass auch Traumen von “unten nach oben” durchgearbeitet werden müssen – vom Körper zum Geist – und nicht umgekehrt. Wenn Traumen in diesen unteren Schichten liegen, muss effektive Therapie darauf abgestimmt sein, dass sie jenseits von verbaler Sprache wirken kann. Hier set- zen sinnvollerweise körper- und erfahrungsorientierte Therapieverfahren an. Die Achtsamkeit in der Be- rührung ist dabei ein wichtiger Schlüssel zur sensomotorischen Verarbeitung von Traumen.

Berührung – die älteste Heilkunst der Menschheit:
Das Wort „Be-HAND-lung“ deutet auf die zentrale Bedeutung der Hand im Zusammenhang mit thera- peutischer Intervention. Berührungsmethoden zählen zu den ältesten Heilmethoden und werden in allen Kulturen seit Jahrtausenden angewandt. Die expressive Berührung wie Streicheln, Halten, Wiegen, Um- armen etc. erfolgt aus einem Urinstinkt und stellt die ursprünglichste Form des Heilens dar, unabhängig von Kultur und Zeitepoche. Ihre therapeutische Heilwirkung ist seit Jahrhunderten belegt – genauso wie die Auswirkung des Mangels an Berührung. Demnach ist innige körperliche Fürsorge durch Halten und Berühren, ein heilender und Ganzheit bringender Akt der Liebe. Im ayurvedischen Heilsystem ist die Wichtigkeit von Massagen aller Art – dort ausgeführt mit warmen Öl, vom Baby- bis zum Greisenalter – bis heute überliefert und wird gerade in der modernen Zeit immer wichtiger. Auch unsere Erfahrungen bestätigen die erdende, umhüllende und regenerierende Wirkung von Ölmassagen (und anderen Formen achtsamer Berührung) – ausgeführt mit viel Liebe und Achtsamkeit – auf Körper und Geist.

Wir hoffen, dass dieser Artikel hilfreich für Euch war und freuen uns, wenn ihr Lust bekommen habt, auf diese achtsame und liebevollen Weise zu berühren und berührt zu werden.

ENJOY 🙂